Wissensmanagement neu gedacht
Wie kann Wissen optimal genutzt werden? Die 1999 von Morten T. Hansen, Nitin Nohria und Thomas Tierney vorgestellten Wissensmanagement-Strategien haben auch nach über zwei Jahrzehnten nichts von ihrer Relevanz verloren – im Gegenteil. Im Zeitalter von Big Data, künstlicher Intelligenz und globaler Vernetzung bieten sie einen wertvollen Orientierungsrahmen für Organisationen, die ihre Wissensressourcen strategisch einsetzen möchten.
Was die Arbeit von Hansen et al. besonders auszeichnet, ist ihr pragmatischer Ansatz. Anstatt ein universelles Modell zu propagieren, identifizieren sie zwei distinkte, komplementäre Strategien: Kodifizierung und Personalisierung. Diese Differenzierung erlaubt es Unternehmen, ihren Umgang mit Wissen entsprechend ihrer spezifischen Geschäftsanforderungen zu gestalten.
Die zwei grundlegenden KM-Strategien im Überblick
In einer vernetzten Welt, in der Informationen und Daten im Überfluss vorhanden sind, kommt es darauf an, das vorhandene Wissen einer Organisation optimal zu nutzen und weiterzugeben. Vor über 20 Jahren stellten die Forscher Morten T. Hansen, Nitin Nohria und Thomas Tierney zwei grundlegende Strategien für erfolgreiches Wissensmanagement vor: die Kodifizierungs- und die Personalisierungsstrategie.
- Kodifizierungsstrategie (Codification)
- Wissen wird dokumentiert, systematisiert und in Datenbanken gespeichert
- Fokus liegt auf Wiederverwendbarkeit von explizitem Wissen
- Erfordert hohe IT-Investitionen und standardisierte Prozesse
- Beispiel: Ernst & Young's Knowledge Web mit codierten Best Practices
- Personalisierungsstrategie (Personalization)
- Wissen wird primär durch direkten persönlichen Austausch geteilt
- Fokus liegt auf der Vermittlung von stillem Wissen (tacit knowledge)
- Erfordert Netzwerke und eine Kultur des persönlichen Austauschs
- Beispiel: McKinsey's Expertennetzwerk und Mentoring-Programme
Die Wahl zwischen Kodifizierung und Personalisierung ist keine Frage der Präferenz, sondern muss strategisch aus dem Geschäftsmodell und den Kundenbedürfnissen abgeleitet werden.
Die Wissensmanagement-Strategien im Detail
Eine effektive Wissensmanagement-Strategie lässt sich nicht isoliert betrachten, sondern muss ganzheitlich in die Organisation eingebettet werden. Die Wahl zwischen der Kodifizierungs- und Personalisierungsstrategie nach Hansen et al. ist keine Frage der Präferenz, sondern hat tiefgreifende Implikationen für verschiedene Unternehmensbereiche. Entscheidend ist, dass die Wissensmanagement-Strategie konsequent mit der übergreifenden Wettbewerbsstrategie, dem wirtschaftlichen Modell, der inhaltlichen Wissensmanagement-Ausrichtung, der Informationstechnologie sowie dem Personalmanagement abgestimmt wird.
- Kodifizierungsstrategie: Basiert auf dem "people-to-documents"-Ansatz, bei dem Wissen von Personen gelöst, in Dokumenten festgehalten und in Datenbanken organisiert wird. Diese Strategie eignet sich besonders für Unternehmen, die wiederkehrende Probleme lösen oder standardisierte Produkte anbieten.
- Competitive Strategy (Wettbewerbsstrategie): Bei der Kodifizierung liegt der Wettbewerbsvorteil in der effizienten Bereitstellung und Implementierung von Informationssystemen durch die Wiederverwendung von kodifiziertem Wissen. Durch die systematische Dokumentation von Best Practices kann neues Personal schnell produktiv werden und etablierte Lösungsansätze für ähnliche Problemstellungen nutzen.
- Economic Model (Wirtschaftliches Modell): Die Kodifizierungsstrategie folgt einer "Wiederverwendungsökonomie", bei der einmalige Investitionen in die Dokumentation von Wissen durch mehrfache Nutzung amortisiert werden. Unternehmen investieren erhebliche Ressourcen in die initiale Erfassung und Strukturierung von Wissen, können dieses dann aber mit minimalen Grenzkosten wiederverwenden.
- Knowledge Management Strategy (Wissensmanagement-Strategie): Im Zentrum steht die Entwicklung eines robusten Systems zur Kodifizierung, Speicherung, Verbreitung und Wiederverwendung von Wissen. Dokumente werden nach einem einheitlichen Schema erfasst, verschlagwortet und in zentralen Datenbanken oder Wissensmanagementsystemen abgelegt. Mitarbeiter werden aktiv ermutigt und incentiviert, ihr Wissen zu dokumentieren und in die gemeinsame Wissensbasis einzubringen.
- Information Technology (IT): Die Kodifizierungsstrategie erfordert erhebliche Investitionen in IT-Infrastruktur und Wissensmanagement-Systeme. Unternehmen implementieren komplexe Datenbank- und Retrievalsysteme, die eine effiziente Erfassung, Kategorisierung und Suche von Wissen ermöglichen. Moderne Systeme nutzen semantische Technologien, Volltextsuche und maschinelles Lernen, um relevante Informationen intelligent zu verknüpfen und zugänglich zu machen.
- Human Resources (Personalmanagement): Unternehmen mit Kodifizierungsstrategie stellen bevorzugt Hochschulabsolventen ein, die gut darin sind, Wissen wiederzuverwenden und in neue Lösungen zu implementieren. Das Personalmanagement fokussiert auf die Fähigkeit, mit strukturierten Informationen umzugehen und dokumentiertes Wissen effektiv anzuwenden. Mitarbeiter werden für Beiträge zur Wissensdatenbank und deren aktive Nutzung belohnt, beispielsweise durch Bonussysteme oder Anerkennung in Leistungsbeurteilungen.
- Personalisierungsstrategie: Fokussiert den direkten Austausch zwischen Personen. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass komplexes, kontextabhängiges Wissen oft nicht vollständig dokumentiert werden kann. Diese Strategie eignet sich besonders für Unternehmen, die innovative, maßgeschneiderte Lösungen für einzigartige Problemstellungen entwickeln.
- Competitive Strategy (Wettbewerbsstrategie): Bei der Personalisierungsstrategie liegt der Wettbewerbsvorteil in der Fähigkeit, kreative, analytische und anspruchsvolle Beratung durch Bündelung individueller Expertise anzubieten. Entscheidend ist die Fähigkeit, das kollektive Wissen und die Erfahrung von Experten für spezifische Kundenbedürfnisse zu mobilisieren.
- Economic Model (Wirtschaftliches Modell): Die Personalisierungsstrategie folgt einer "Expertenökonomie", bei der individuelle Lösungsansätze für spezifische Probleme entwickelt werden, um hohe Gewinnmargen zu generieren. Unternehmen investieren in hochqualifizierte Experten und deren kontinuierliche Entwicklung. Die Beratungsleistung wird zu Premium-Preisen angeboten, da sie auf tiefem Fachwissen und langjähriger Erfahrung basiert.
- Knowledge Management Strategy (Wissensmanagement-Strategie): Im Zentrum steht die Entwicklung von Netzwerken und Prozessen, die den Austausch von implizitem Wissen (tacit knowledge) fördern. Statt auf umfassende Dokumentation zu setzen, werden Verbindungen zwischen Wissensträgern geschaffen.
- Information Technology (IT): Bei der Personalisierungsstrategie sind die IT-Investitionen moderat und fokussieren auf Technologien, die den Austausch von implizitem Wissen erleichtern. Statt umfangreicher Dokumentenmanagementsysteme werden Kollaborationstools, Videokonferenzsysteme und Expertenverzeichnisse implementiert. Die IT-Infrastruktur dient primär dazu, Menschen miteinander zu verbinden
- Human Resources (Personalmanagement): Unternehmen mit Personalisierungsstrategie stellen hochqualifizierte Fachkräfte ein, die problemorientiert handeln und komplexe Sachverhalte analysieren können. Die Weiterbildung erfolgt primär durch persönliches Mentoring, On-the-Job-Training und den direkten Austausch mit erfahrenen Kollegen.
Zusammenfassung: Strategische Weichenstellung mit Kodifizierung und Personalisierung
Die beiden Wissensmanagement-Strategien bieten einen zeitlosen Rahmen für Organisationen, die ihre Wissensressourcen optimal nutzen möchten. Die beiden komplementären Ansätze – Kodifizierung und Personalisierung – ermöglichen es Unternehmen, ihr Wissensmanagement passgenau an ihr Geschäftsmodell anzupassen und systematisch in ihre Organisationsstruktur zu integrieren. Während die Kodifizierungsstrategie auf der Dokumentation und Wiederverwendung von explizitem Wissen basiert, setzt die Personalisierungsstrategie auf direkten persönlichen Austausch und die Nutzung von implizitem Wissen.
Besonders wertvoll ist dabei die Erkenntnis, dass es beim Wissensmanagement keinen universellen "Best Practice"-Ansatz gibt. Stattdessen müssen Organisationen ihre Strategie konsequent an ihrer Unternehmensausrichtung orientieren: Unternehmen, die standardisierte Lösungen für wiederkehrende Probleme anbieten, profitieren von einer kodifizierungsdominierten Strategie, während Organisationen mit einzigartigen, komplexen Problemstellungen eine personalisierungsdominierte Strategie bevorzugen sollten. Diese strategische Klarheit ermöglicht es, Wissen nicht nur als abstrakte Ressource, sondern als konkreten Wettbewerbsvorteil zu etablieren.